Mittwoch, 10. September 2008

22. Pfadsucher – Pfadfinder


Es hatte keinen Sinn, die Suche auf den nächsten Morgen zu verschieben, denn an den hiesigen Lichtverhältnissen würde sich voraussichtlich nichts großartig ändern. Die vier Uran-Leuchtflaschen ließ man zurück, sie hatten ihren Dienst schlecht verrichtet und waren hier als eine Art Leuchtboje für einen etwaigen Rückzug gerade richtig. Also klaubten sie nur ihre Habseligkeiten zusammen, schnappten sich Knochenfackeln und stiefelten los. Zurück konnte Mehlhorn kaum gegangen sein – den schmalen Grat hatte er nur mit klappernden Zähnen und Schweißausbrüchen bewältigt. Freiwillig hätte er also nie diesen Weg eingeschlagen, so blieb nur die andere Richtung. Bald erreichte die kleine Mannschaft den runden Raum. Ratlos glitten die Blicke über die unzähligen Öffnungen. »Wir müssen nach Spuren suchen!« bahnte sich ein Geistesblitz den Weg aus Wurstkübls Sprechöffnung. »NUUN, leuchte mal – zuerst hier am Boden!« Im feinen Staub zeichneten sich tatsächlich Fußspuren ab. Doch in welcher Vielfalt! Manche stammten von nackten Füßen in Größe 54, andere offenbar von Höhlentigern oder neunköpfigen Drachen, darin war man noch uneins. Nur mühsam konnte man hie und da Mehlhorns Turnschuhe der Marke »Space Captain Meier« herausfiltern.

Montag, 8. September 2008

21. Wehlhong? Mehlhorn!


Als erstem wurde Ruckdäschel bewußt, daß Mehlhorn verschwunden war. Er wollte ihn nämlich soeben darum bitten, ihm einen Span der Alu-Zeltstange zwischen den Zähnen hervorzupolken, der sich im Zuge des gierigen Herunterschlingens der gerösteten Quarkkeulchenfragmente dorthin zurückgezogen hatte. Nun stapfte er, den Finger im Mund und einen langen Speichelfaden am Kinn, um das Lager herum und fragte fortwährend ins Entfernte hinein: »Wehlhong? – Wehlhong? – Wehlhong? – Wehlhong? …« Schließlich stutzte er: »Wehlhorn? Meeehlhooorn! – Autsch!« Er hatte sich soeben beim Rufen selbst von innen die Wange aufgeschnitten, denn der Span ragte distal zwischen seinen Backenzähnen hervor. Das Blut troff am Speichelfaden entlang auf den Höhlenboden, der diese belebende Flüssigkeit gierig aufsog und sich nur sehr verhangen um Jahrtausende zurückerinnerte, als hier ähnliche Fluide zur allgemeinen Bodenbeschaffenheit zählten. Jetzt wurden auch die anderen aufmerksam. Man sah unter jeden Stein, rief, betete und weinte – aber vergeblich: Mehlhorn blieb verschwunden.

Mittwoch, 27. August 2008

20. Heimwehgedanken, Gedankengänge und Gänge


Nun saß Mehlhorn da und zog ein Gesicht wie 5. Weltkrieg auf Nitrobasis. War seine Entscheidung, das »traute Heim« zu verlassen, richtig gewesen? Könnte er nicht in diesem Moment mit frischer Unterwäsche im Speisesaal sitzen und Joghurt löffeln? Freilich, rechts neben ihm würde der dicke Ewald Thompsen hocken und sich mit seiner Sandmännchen-Zahnbürste den Lactobacillus bulgaricus gleichmäßig im Gesicht verteilen. Links von ihm säße apathisch der Grüne Klaus und würde urplötzlich nach vorn in das Kompottschüsselchen kippen, nur um für 3 Sekunden zu erwachen und darauf wieder in Regungslosigkeit zu verfallen. Ihm gegenüber befände sich der Knochenkasper, ein schrecklich dürrer Kerl, der immerfort hin und her schaukelte und dabei starr geradeaus grinste. Hinter ihm würde Schwester Trautgard entlangdragonern und nach billiger Seife riechen. Doch waren ihm diese Vorgänge vertraut. Hier hingegen, in dieser steingewordenen Ungewißheit mit aufgebrauchten Lebensmitteln zu sitzen, umgeben von Wesen, die scheinbar klüger waren als er … Mehlhorn griff sich einen glimmenden Knochen und erhob sich aus dem Schneidersitz wie ein Wurm, der sich erfolglos aufzuknoten versucht. Als er endlich stand, beschloß er, ein wenig das Terrain zu erkunden, indem er sich schlurfend an einer Wand vorwärtsbewegte. Er hatte schon viel über Labyrinthe gelesen und wußte, daß man nie die Seite eines Ganges wechseln durfte, wenn man es nicht gerade darauf anlegte, sich zu verlaufen. Plötzlich stand er in einem runden Raum. Und wenn ich rund sage, meine ich auch rund. Er sah aus wie ein gepunkteter Ball von innen. Nur, daß statt der Punkte nach allen möglichen Seiten -zig Gänge abzweigten. Grübelnd stand er lange Zeit zwischen den Löchern.

Sonntag, 24. August 2008

19. Besinnliches dank Duftgas oder . . . . . Die Stimme der Stammväter


Die verkokelten sterblichen Überreste der Höhlenbären verbreiteten einen angenehmen Duft in der miefigen Grotte, der teilweise an »Neugrüne Tara-Räucherstäbchen« erinnerte, welche Frau Tömpke stets bei aufkommenden Depressionen und Unterleibsbeschwerden zu entzünden pflegte. Mehlhorn dachte zurück ans Heim, wo jetzt alle Verbliebenen bestimmt beieinander saßen und wacholderjoghurtlöffelnd der drei Entkommenen gedachten. Als Ruckdäschel und Siebenschrot damals heimlich durchs Dachfenster abhauen wollten, hatte er sich ihnen mutig in den Weg gestellt. Er war gerade dabeigewesen, auf dem Dachboden einige Kartons nach dem MOSAIK-Heft* zu durchsuchen, das ihm bei seiner Einweisung abgenommen und nach oben verfrachtet worden war. Er war in diesem Heft (Nummero 1) erst auf der Seite 18 angelangt und wollte jetzt unbedingt wissen, wie den drei Digedags die Flucht aus dem Sultanspalast gelang und ob sie tatsächlich nicht durch den Harem rennen würden. Während Mehlhorn so den Weg verstellte, bekam er jedoch plötzlich Lust, es den drei Comic-Kobolden aus seinem bunten Heftchen gleichzutun und schlug vor, mitzukommen. Ja, er drohte sogar, im Falle der Nichteinwilligung sofort seinen berüchtigten Sirenenschrei loszulassen, der seinen Vorfahren, die wohl einst Nacht- oder Turmwächter gewesen waren, schon den Namen Mehlhorn eingebracht hatte. Denn jedesmal, wenn sie ins Horn stießen, war dieses zu feinem Mehl zerfallen — so destruktiv wirkte die Stimme seiner Stammväter schon. Körperlichen Schaden fürchtend, hatten Siebenschrot und Ruckdäschel eingewilligt und den strammen Burschen mit auf die Reise genommen.

* Das Heft, das sich in Mehlhorns Besitz befindet, ist ein in Sammlerkreisen außerordentlich begehrtes Stück. Handelt es sich hierbei doch um das einzige verbliebene Exemplar der 1. Auflage von 1948! Damals war der Lieferwagen, mit den frischen Heften aus der Druckerei kommend, dummerweise an einer Tankstelle explodiert, weil der russische Unteroffizier, der das Fahrzeug lenkte, unbedingt Machorka rauchen mußte. Das einzig erhaltene Heft war jenes, welches einer der Drucker heimlich nach Dienstschluß mitnahm — dies war Mehlhorns Cousin! Unser Freund erhielt das feine Exemplar zum Geburtstag und wartete verzweifelt auf die Ausgabe Nr. 2, denn er hatte seine Digedags so recht ins Herz geschlossen. Doch muß er sich aufgrund der angespannten Lage auf dem Papiermarkt sehr gedulden, denn erst Weihnachten 1955 kann das erste MOSAIK-Heft nachgedruckt und die Reihe fortgesetzt werden — und wir schreiben jetzt erst das Jahr 1949 …! Näheres dazu entnehme der interessierte Laie bitte der Broschüre »Das Mysterium um Heft 1« von Prof. Thorwald Kremser, Geierschnabel Verlag 2008.

Sonntag, 20. Januar 2008

18. Paläontologische Rüpeleien

Wurstkübl zuckte zusammen. Hatte der seltsame Wicht sich nicht eben über seinen Vornamen lustig gemacht? Von den anderen kam aber keine Reaktion, welche die Beachtung der Anrede »Hoheit« vermuten ließ. Also war es möglich, daß er sich verhört hatte. Etwas Erleichterung machte sich in dem alten, knochigen Körper breit. Dank NUUNs kräftiger Beleuchtung schritt der merkwürdige Verein nun etwas unverdrossener voran, sodaß man um die Mittagszeit herum endlich wieder eine ebene Fläche erreichte und Rast einlegen konnte. Bei näherer Betrachtung der Wände stellte sich alsbald heraus, daß es sich hierbei um eine pleistozäne Kavität handeln mußte, denn die durch Knochenreste präsente Megafauna der Eiszeit legte diese Vermutung nahe. Siebenschrot hängte seinen Rucksack an einen aus der Wand ragenden Mammut-Stoßzahn, während Ruckdäschel einige versinterte Gebeine der äußerst seltenen Höhlenbärenart Ursus spelaeus asiensis zu einem Lagerfeuerhaufen zusammenklapotterte. Vermittels zweier aneinandergeschlagener Stalagmiten von außergewöhnlicher Schönheit war ein Feuer schnell entfacht, und man entkorkte aus Gemütlichkeit und Durstgefühl die letzte Flasche »Reinholdshagener Rote-Beete-Saft – feinste Sortierung«. Die drei eingefrosteten Quarkkeulchen wurden an die zweieinhalb mitgeführten Zeltstangen gespießt. Nach dem Auftauvorgang und vollführter Knusprigmachung teilte man sie brüderlich – ja, fast zwillingsbrüderlich – untereinander auf.

Freitag, 18. Januar 2008

17. Streulicht erfreut nicht

Der Alte tastelte sich voran. Sein Gesicht war durch die Uranflasche seltsam beschienen. Er hatte seine hölzerne Schneebrille in die Windel geklemmt und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die vor ihnen liegende, schwarze Welt. Es wurde sehr bald offenbar, daß sich zur Linken ein irrsinnig tiefer Abgrund befand, denn hinunterpurzelnde Steinchen gaben kein Geräusch eines etwaigen Aufpralls von sich. Zur Rechten befand sich, um das Maß vollzumachen, eine steile Felswand. Man bewegte sich im Schildkrötentempo die schmale Kante entlang; wie eine riesige Leuchtraupe auf dem Weg zur letzten Ruhestätte. NUUN war leicht genervt ob der Langsamkeit des Fortkommens, die sich schon fast dem Minusbereich näherte. Kurz entschlossen setzte er sich mit seinem seltsamen Surfgestein an die Spitze des Zuges und knipste an der wurzelverhangenen Unterseite seiner Standfläche einen Scheinwerfer an! Die Truppe stöhnte in vier verschiedenen Tonarten auf. »Warum nicht gleich so, du komischer Beutel?!« Sardanapal stapfte wutig auf. Das kleine Wesen sprach schmunzelnd: »Energie sparen, Hoheit, Energie sparen.«

Montag, 14. Januar 2008

16. Helligkeit ohne Lampe

»Mein Herr Vater, dieser Teufelskerl!« entfuhr es dem alten Wurstkübl, sich mühselig hochwindend. »Hat einen Geheimausgang angelegt!« Das Loch gab ein lang nachwedelndes Echo von sich, was auf eine immense Kubikmetrigkeit schließen ließ. »Also, ich hab die Buchseiten nicht herausgerissen, so viel weiß ich noch! – Doch wenn wir dieses Rätsel lösen wollen, müssen wir da hinein. Das riecht geradezu nach Erkenntnissen!« Aber wie würde man ohne Fackeln das Dunkel erhellen? Zudem hatten die Packpferde Ludmilla und Bundesbahn bei ihrem überstürzten Aufbruch Ruckdäschels orientalische Taschenlampensammlung mitgenommen, und die Glühbirnen an den Wänden waren fest mit den alten Generatoren verdrahtet. Jedoch weil Mehlhorn sämtliche Abenteuerliteratur, die je ins Deutsche übertragen worden war, in sich aufgesaugt hatte wie ein trockener Schwamm das Tröpfchen, war ihm sofort klar, nach welcher Manier man sich Lampen basteln würde. Ein paar umherstehende Flaschen wurden geschwind mit ein paar umherliegenden Uranabfällen gefüllt, die scheinbar niemand vermißte. So ausgestattet, und mangels besseren Wissens über Radioaktivität und ihre haarsträubenden Folgen auch keinerlei Gefahr durch dieselbe ausgesetzt, stiegen unsere fünf Exkursioner frohen Mutes einer nach dem anderen in den muffigen Schrank hinein.

Sonntag, 13. Januar 2008

15. Papier war nicht geduldig

Er griff, nachdem er eine Weile mit verdrehtem Kopf die Jahreszahlen studiert hatte, zielgerichtet einen Band heraus. Auf ihm stand: 1746. Januar bis Juni. So stürmisch es seine alten, brüchigen Finger erlaubten, fuhrwerkte er sich vibrierend durch das Notizbuch. Vor und zurück, vor und zurück und noch mal. Schließlich stöhnte er hohl auf. »Diese Seiten fehlen! – Man hat sie herausgerissen!« Von Verzweiflung gebeugt, kauerte sich der Alte in den Schrank. Zum Glück sah er nicht die blöden Gesichter seiner Reisegefährten. NUUN wurde ungeduldig. »Such noch mal! Wie kannst Du so genau wissen, in welchem Buch das steht?! Schließlich bist Du schon 198! Losloslos!« Mit diesen Worten raste er auf Wurstkübl zu und wollte ihn bei den Schultern packen. Aber irgendwie hatte er seinen Schub unterschätzt – jedenfalls krachten beide extrem gegen die Schrankrückwand. Die klappte – wen wundert das eigentlich hier noch – wie eine Zugbrücke nach hinten herunter und alle Notizbüchlein rasselten auf die beiden Unglücklichen herab. Und zwar unter abrißhausartiger Staubentwicklung. Nachdem sich die Wolke verzogen hatte, starrten alle in eine schwarze Öffnung, aus der es wieder mal pilzig-kühl herausdünstelte.